Reichenbachscher Kreis

Der Reichenbachsche Kreis und die alte Bohnenberger-Sternwarte in Tübingen

Die Wiederentdeckung der Bohnenberger-Sternwarte
Wer sich in Tübingen auf die Burgsteige Richtung Schlosshof begibt, entdeckt rechter Hand kurz vor dem zweiten Schlossportal ein kleines freistehendes Rundgebäude. Mit seinen grob bearbeiteten Sandsteinsegmenten erinnert es beim flüchtigen Betrachten an einen Brunnen. Schaut man sich das Gebäude mit dem Kegeldach und dem markanten Beobachtungsspalt aber etwas genauer an, so ahnt man vielleicht seine Funktion – es handelt sich um ein astronomisches Observatorium. Im Frühjahr 2002 wurde in Tübingen ein Projekt zur Erfassung wissenschaftshistorisch relevanter Artefakte und Örtlichkeiten durchgeführt. Hierbei stand auch die Begehung der Nordbastion von Schloss Hohentübingen auf dem Programm. Nachdem sich bei der anberaumten Begehung des Areals keine Schlüssel zur Holztüre des kleinen Rundbaus mehr fanden, wurde das Türschloss kurzum mit einem „Dietrich“ geöffnet. Mit diesem Schritt begann vor über 20 Jahren die wohl einzigartige Wiederentdeckung einer astronomischen Forschungsstätte, welche sich in den vergangenen 200 Jahren praktisch unverändert wie eine Zeitkapsel an Ort und Stelle befand. Gebaut wurde das kleine Observatorium im frühen 19. Jahrhundert unter der Direktion des Astronomen und Geodäten Johann Gottlieb Friedrich Bohnenberger (1765-1831). Zusammen mit dem im Inneren der Kuppel erhaltenen Winkelmessinstrument der Firma „Reichenbach und Utzschneider“ ist dieses Ensemble weltweit einzigartig. Das kleine Rundgebäude war Teil der ersten Tübinger Sternwarte, die bereits 1752 auf dem rund 40 Meter entfernten großen Nordostturm des Schlosses errichtet wurde. Dort gab es ebenfalls Beobachtungsmöglichkeiten, die aber seit dem Rückbau des Turmdaches in den 1950er Jahren verschwunden sind. Die Schloss-Sternwarte wurde über einen Zeitraum von rund 200 Jahren von verschiedenen Astronomen genutzt. Sie ist somit ein bedeutender Teil der über 500-jährigen Astronomiegeschichte Tübingens. Dem Astronomen J. G. F. Bohnenberger war die Tübinger Sternwarte ganz besonders wichtig. Er legt sogar den Nullpunkt der Württembergischen Landesvermessung an den mächtigen Nordostturm des Schlosses.

Johann Gottlieb Friedrich Bohnenberger (1765-1831)
Friedrich Bohnenberger war sicher der bedeutendste Astronom der Tübinger Schloss-Sternwarte. Er ist uns heute vor allem für seine Leistungen als Leiter der zwischen 1818 und 1840 durchgeführten Württembergischen Landesvermessung bekannt. Sein Leben steht für eine typisch protestantische Gelehrtenkarriere zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts. Bohnenberger wurde am 5. Juni 1765 in Simmozheim bei Weil der Stadt geboren. Bereits sein Vater, der Pfarrer Gottlieb Christoph Bohnenberger (1732-1807) war sehr an naturwissenschaftlichen Phänomenen interessiert. Vor allem die noch junge Elektrotechnik hatte es ihm angetan. Friedrich wurde nach der Volksschule zunächst von seinem Vater unterrichtet, bevor er – nun siebzehnjährig -1782 ins Stuttgarter Gymnasium Illustre aufgenommen wurde. Vermutlich entwickelte sich sein Interesse für die Astronomie und Geodäsie schon während seiner Stuttgarter Zeit. 1784 kam Friedrich Bohnenberger an das evangelische Stift in Tübingen. Wie bereits sein Vater, der auch in Tübingen studierte, sollte auch er Pfarrer werden. Neben Theologie hörte Bohnenberger Vorlesungen zur Mathematik, Astronomie und Physik. Die theoretische Ausbildung am Stift war ausgezeichnet, die praktische dagegen weniger. So begann der Autodidakt Bohnenberger, selbst Winkelmessinstrumente zu entwickeln und zu bauen. Mittlerweile war Friedrichs Familie nach Altburg bei Calw umgezogen. Er besuchte sie dort regelmäßig und nutzte dort eine eigene kleine Sternwarte für seine Beobachtungen. 1789 schloss er seine Studienjahre in Tübingen ab. Zurück in Altburg arbeitete er zunächst als Vikar in der väterlichen Pfarrei. Das Amt ließ ihm genügend Zeit, um sich neben seinen Forschungen auch als Verfasser wissenschaftlicher Literatur zu beschäftigen. Darunter ein viel beachtetes Lehrbuch zur astronomischen Ortsbestimmung und ein Entwurf zur Herstellung topographischer Karten. Mittlerweile hatte Bohnenbergers Förderer Christoph Friedrich Pfleiderer (1736-1821) seine Anstellung an der Universität in Tübingen betrieben. Er begann als Assistent im Wintersemester 1795/96. Zuvor unternahm Bohnenberger noch eine Forschungsreise nach Gotha und Göttingen. Bohnenbergers Vorlesungen zur praktischen Astronomie und angewandten Mathematik waren gut besucht. Besonders seine perfekt vorbereiteten Experimente beeindruckten seine Studenten. Bohnenberger wurde 1803 Professor, 1815 Senatsmitglied und 1821 nach dem Tod seines Mentors Pfleiderer auch Leiter der Mathematik und Naturwissenschaft an der Universität. 1818, Bohnenberger war nun schon 53 Jahre alt, übernahm er mit der Leitung der Württembergischen Landesvermessung sein letztes großes Projekt. Er verewigte die Sternwarte, indem er den Nullpunkt des württembergischen Koordinatensystems in den Nordostturm des Schlosses legte. Vermutlich verwendete Bohnenberger seinen 1814 erworbenen Reichenbachschen Kreis zur Kontrolle dieses Fundamentalpunktes mit 48° 31‘ 12,4‘‘ nördlicher Breite und 26° 42‘ 51,0‘‘ Länge östlich Ferro. Die Fertigstellung der Württembergischen Landesvermessung im Jahr 1840 erlebte der mittlerweile geadelte und hochgeachtete Bohnenberger jedoch nicht mehr. Nach seinem Tod im Jahr 1831 reimte man in Tübingen: „Die Sternwarte ist jetzt verwaist / seit Bohnenberger den Himmel selbst bereist.“ Mit diesen lieb gemeinten Worten erinnerten die Tübinger an einen ihrer größten Naturwissenschaftler.

Das kleine Bohnenberger-Observatorium
Kommen wir zurück auf das eingangs schon erwähnte Observatorium. Öffnet man seine hölzerne Eingangstüre, so sieht man im Inneren vier runde, im klassizistischen Stil ausgeführte Steinsäulen, welche an ihrem oberen Ende über ein schmiedeeisernes Kreuz miteinander verbunden sind. Darin eingespannt und auf einem zentralen ovalen Messtischblock gelagert befindet sich der große Reichenbachsche Wiederholungskreis. Es handelt sich hierbei um ein Winkelmessinstrument, auf dessen genaue Funktion wir noch näher eingehen werden. Bleiben wir aber zunächst bei dem kleinen Rundgebäude. Der umlaufend aus Eisen geschmiedete Zahnkranz am inneren Kuppelrand kann mittels einer Kurbel gedreht werden. Seine Holzkonstruktion ist mit aufeinander gefalzten Kupferblechplatten überzogen. Das Kuppeldach selbst besitzt einen Doppelspalt, welcher für die Beobachtung des Sternenhimmels aufgeklappt werden kann. Öffnet man im Inneren die zwei sich gegenüberliegenden Fensterläden, so tritt Licht in den weiß verputzten Innenraum. Untersuchungen legen die Vermutung nahe, dass sich ursprünglich ein Holzboden im Observatorium befand. Das Rundgebäude selbst ist aus unregelmäßig behauenen Sandsteinblöcken errichtet. Sie scheinen aufgrund ihrer unterschiedlichen Größe nicht so recht zusammenzugehören. Es liegt daher der Verdacht nahe, dass für das Mauerwerk wahrscheinlich Abbruchschutt, möglicherweise von dem 1647 gesprengten Südostturm des Schlosses, als Baumaterial verwendet wurde. In der Mitte des kleinen Observatoriums steht der Reichenbachsche Wiederholungskreis, auch als Multiplikations- oder Repetitionskreis bezeichnet. Das Instrument besteht im Wesentlichen aus einer zentralen, drehbar gelagerten Säule (Instrumentenachse) und zwei daran befestigten, mit Speichen versehenen Kreisen sowie einem Fernrohr. Der untere, fest mit der Säule verbundene Kreis (Horizontalkreis) hat einen Durchmesser von gut 70 cm. Der seitlich an der Säule angebrachte Kreis (Vertikalkreis) hat einen Durchmesser von rund 95 cm. Er besteht aus einem weiteren Kreissegment, welches innerhalb des Vertikalkreises gedreht werden kann und das Fernrohr trägt. Dieser Kreis wird Alhidadenkreis genannt. Das Instrument besteht im Wesentlichen aus Messing und ist mit einem transparenten Instrumentenlack (Lerchenharzterpentinlack) überzogen. Die beiden Kreise dienen der Winkelmessung, sie sind jeweils mit einem feingeteilten Silberlimbus versehen. Die Ablesung der Winkelgrade erfolgt mit Hilfe von Lupen und Nonien. Das Fernrohr am Alihdadenkreis besaß ursprünglich ein Objektiv aus der Hand des berühmten Optikers Joseph von Fraunhofer (1787-1826). Leider ist dieses Objektiv heute nicht mehr vorhanden. Mit einer Öffnung von 83 mm, einer Brennweite von 1300 mm, sowie einer etwa 130-fachen Vergrößerung war es zu seiner Zeit ein durchaus leistungsfähiges Fernrohr. Für einen bequemen Einblick war ursprünglich am okularseitigen Ende des Fernrohrs ein 90°-Winkelprisma angebracht. Das Okular selbst besaß ein Fadenmikrometer. Über eine kleine Schiebeöffnung in der Mitte des Fernrohrs kann mit Hilfe einer kleinen Petroleumlampe Licht in das Innere des Tubus gebracht werden. Durch diese künstliche Aufhellung ist es möglich, das Fadenkreuz auch gegen den sonst dunklen Sternenhimmel deutlich zu erkennen. Kommen wir noch einmal auf den großen Vertikalkreis zurück. An seinem Rand findet sich neben dem Herstellerhinweis „Reichenbach und Utzschneider in München“ auch das Auslieferungsjahr „1815“ des Instruments. Der aus Silber gearbeitete Limbus ist in 360 Grad geteilt, wobei jedes Grad noch einmal mit 20 Unterteilungen versehen ist. Somit entspricht der Winkel zwischen zwei Teilstrichen genau 3 Winkelminuten bzw. 180 Winkelsekunden. Insgesamt ist also der Vertikalkreis mit 7200 Teilstrichen versehen. Das Gravieren des Silberlimbus war eine technische Meisterleistung. Diese Arbeit wurde übrigens nicht von Reichenbach selbst, sondern häufig von seiner Frau Therese ausgeführt. Ein ausgeklügeltes Entlastungssystem mit Gewichten, Hebeln und Rollen nimmt die Last von den empfindlichen Lagern und sorgt zusätzlich für eine weitestgehend verwindungsfreie Instrumentenlage. Einige Teile des Entlastungssystems sind nicht mehr erhalten. Zur Kontrolle der einwandfreien Aufstellung des Instruments waren mehrere Libellen (Wasserwaagen) angebracht, nur eine davon befindet sich noch am Instrument. Zur ursprünglichen Ausstattung des kleinen Observatoriums gehörte noch eine Präzisionspendeluhr von Agéron aus Paris. Diese wurde später von dem Universitätsmechanikus J. W. G. Buzengeiger (1778-1836) mit einem modernen Kompensationspendel versehen.

Zur Funktion des Instruments
Der Reichenbachsche Multiplikationskreis reiht sich nach seinen Konstruktionsmerkmalen in die Instrumentenklasse der astronomischen Theodolite ein. Er wurde zur Bestimmung von Himmelsörtern, vorrangig von Sternen und Kleinplaneten, eingesetzt. Üblicherweise wurden hierbei Zenitdistanzen, also der Winkelabstand zwischen dem Himmelsobjekt und dem Zenit, gemessen. Hierbei wurde zur Überprüfung der exakten Aufstellung der Hauptinstrumentenachse ein sogenannter Quecksilberspiegel eingesetzt. Zu dessen horizontaler Spiegelfläche die Instrumentenachse einen Winkel von exakt 90 Grad aufspannen musste. Um nun die Zenitdistanz eines Sterns zu bestimmen, wurde am Instrument zunächst der innere Kreis (Alhidadenkreis) festgeklemmt. An diesem inneren Kreis ist auch das etwa 1,3 m lange Fernrohr befestigt. Nun wurde die Verniere-Skala, eine kleinere, gleitende Skala, die sich entlang des Alhidatenkreis befindet, abgelesen (1. Instrumentenablesung). Anschließend wurde die Klemmung des äußeren Kreises geöffnet und das Fernrohr in Richtung des Beobachtungsobjekts ausgerichtet. Die genaue Zentrierung auf das Objekt erfolgt dann mit Hilfe der Mikrometerschrauben, und zwar so lange, bis der Stern genau auf dem horizontalen Faden des Okulars zu liegen kam. Nun wurde mithilfe einer Präzisionspendeluhr die Zeit genommen und notiert. In einem zweiten Schritt wurde das ganze Instrument genau um 180° im Azimut gedreht und dann festgeklemmt. Nun wurde die Klemmung des Alhidadenkreises geöffnet und das Fernrohr erneut auf das Beobachtungsobjekt ausgerichtet, bis der Stern auf dem horizontalen Faden des Mikrometers lag. Hierbei blieb der äußere Kreis festgeklemmt. Nun wurde erneut die Zeit genommen und notiert. Der jetzt abgelesene Winkel entsprach genau der doppelten Zenitdistanz des Beobachtungsobjekts. Eine Wiederholung dieser Messung und eine anschließende Mittlung der Ergebnisse reduzierten die problematischen Instrumentenfehler etwas. Das Ablesen des Kreises erfordert gute Augen und viel Erfahrung. Die hierbei erreichbare Genauigkeit von etwa zwei Bogensekunden, wie sie Georg von Reichenbach Bohnenberger versprach, wurde jedoch nur indirekt erreicht. Man ermittelt die Winkelsekunden, vergleichbar dem Ablesen einer Schieblehre, mehr geschätzt als wirklich gemessen. Um sich eine Vorstellung dieses Messbereichs zu machen, genügen wenige Beispiele: 60 Bogensekunden, also eine Bogenminute, entsprechen etwa dem Winkel eines 1 Meter breiten Objekts aus einer Entfernung von rund 3,5 Kilometern, 20 Winkelsekunden etwa dem eines 1 Zentimeter großen Objekts aus etwa 100 Metern Entfernung und eine Bogensekunde dem Winkel einer 1-Euro-Münze aus einer Entfernung von 4,8 Kilometern! Mit der angestrebten Messgenauigkeit von nur wenigen Bogensekunden lag man letztlich schon weit im Bereich des mechanisch bedingten Instrumentenfehlers des Multiplikationskreises.

Die Ironie der Geschichte
Bohnenberger hatte sich bereits um 1802 einen 12-zölligen Wiederholungskreis nach seinen Wünschen bei dem Mechanikus Wilhelm Gottlob Benjamin Baumann (1772-1849) in Stuttgart anfertigen lassen. Das Instrument war zwar gut, kam aber in seiner mechanischen Ausführung nicht an die Qualität der Münchner Instrumente aus Utzschneiders Werkstatt heran. Als sich 1811 für Bohnenberger die Chance bot, einen astronomischen Kreis von Reichenbach für die Tübinger Sternwarte anzuschaffen, griff er verständlicherweise zu. Ergab sich doch so für ihn die Möglichkeit, instrumentell mit den modernsten Observatorien seiner Zeit gleichzuziehen. Als 1814 das Instrument nach rund drei Jahren Bauzeit geliefert wurde, war es jedoch bereits veraltet. Mittlerweile arbeiteten einige seiner Kollegen mit einem deutlich leistungsfähigeren Instrument, dem Meridiankreis. Bohnenbergers Instrument litt wie alle großen Reichenbachschen Kreise an mechanischen Problemen. Positionsmessungen mit verschiedenen Instrumenten dieses Typs an ein- und demselben Stern erbrachten nicht selten mehrere 10-er Bogensekunden Abweichung. Reichenbach begründete das Problem folgendermaßen: „[…] auf die Flexibilität der Metalle bey astronomischen Instrumenten, welche, wenn auch die Schwere noch so vorsichtig durch Hebel und Gegengewichte balansirt ist, manchmal doch nicht ganz gehoben ist, und in solchem Falle einen Constanten Fehler veranlaßt der mit den Zenith Abständen zunimmt. Multiplicirende Instrumenten sind, ihrer complicirten Construction wegen, diesem Übel mehr als nicht multiplizirende ausgesetzt.
Reichenbach hatte das Problem erkannt und den nicht multiplizierenden Instrumenten daher eine höhere Genauigkeit zugeschrieben. Da für die Messung einer Sternposition die obere Kulmination durch den Himmelsmeridian in der Regel ausreicht, konnte auf die Bewegung im Azimut verzichtet werden. Damit reduzierten sich die Achsen auf nur noch eine, was den Instrumentenfehler erheblich reduzierte. Die Idee eines Meridiankreises war nicht ganz neu, sie geht auf den dänischen Astronomen Olaf Christensen Rømer (1644-1710) zurück, der mit seiner „Rota meridiana“ bereits 1704 den Prototyp dieser Instrumentenklasse entwickelt hatte. Wirklich nutzbar waren diese Instrumente aber erst mit den exakt geteilten Kreisen von Johann Georg Repsold (1770-1830) in Hamburg und später auch von Reichenbach. Ab etwa 1815 kam dann endgültig der wissenschaftliche Durchbruch der Meridiankreise. Innerhalb kurzer Zeit bestellten führende Sternwarten wie Königsberg, Göttingen, Turin, München, Ofen und Warschau die neuen Instrumente. Bohnenberger konnte jedoch kaum darauf hoffen, binnen der nächsten Jahre die finanziellen Mittel für die Anschaffung eines Meridiankreises zu erhalten. Dass er mit seinem Instrument unzufrieden war, ist nicht nur zu vermuten, es zeigte sich letztlich auch daran, dass er keine mit dem Kreis gewonnenen Messergebnisse publizierte. Auch als Universalinstrument für geodätische Messungen konnte der große, stationär aufgestellte Kreis nicht verwendet werden. Zudem verfügte Bohnenberger bereits über ein transportables, 14-zölliges Universalinstrument, ebenfalls von Reichenbach & Ertel angefertigt. Ein späterer Umbau zum Meridiankreis, wie 1881 mit dem Mannheimer Multiplikationskreis geschehen, blieb dem Tübinger Instrument erspart. Vermutlich hat Bohnenberger mit dem Instrument zumindest den Tübinger Ortsmeridian – einer gedachten Linie durch den Ort in Nord-Südrichtung von Pol zu Pol – bestimmt. Hätte Bohnenberger oder einer seiner Nachfolger das Instrument intensiv genutzt, so wäre es mit großer Wahrscheinlichkeit mehrfach umgebaut und letztlich, nach voranschreitendem mechanischen Verschleiß, auch abgebaut worden. So ist es heute als ein Glücksfall zu werten, dass sich dieses Kleinod im Originalzustand erhalten hat.

Eine Sternwarte im Dornröschenschlaf
Schon wenige Jahre nach Bohnenbergers Tod im Jahr 1831 geriet der Reichenbachsche Kreis in Vergessenheit. Seine Nachfolger zeigten wenig Interesse an dem technisch veralteten Instrument. Eine erhalten gebliebene Aufnahme des Fotografen Paul Sinner (1838-1925), welche um 1913 aus dem Fenster des Ostflügels gemacht wurde, zeigt das kleine Observatorium inmitten eines Gemüsebeets. Als man 1926 dem eben erst eröffneten Deutschen Museum in München den Reichenbachschen Kreis zum Kauf anbot, lehnte Oskar von Miller (1855-1934) ab, geschenkt hätte er ihn wohl sicher genommen. In den 1950er Jahren verließen die Astronomen endgültig das Schloss und zogen auf die Waldhäuser Höhe. Mittlerweile war das kleine Observatorium von einem üppigen Blumenbeet umringt. Es passte sich so gut in den kleinen Park auf der Bastion ein. Vielleicht zu gut, denn viele der Besucher hielten das kleine Gebäude wohl eher für einen Brunnen als für eine Sternwarte. In den 1980er Jahren gab es Überlegungen, den Reichenbachschen Kreis zu restaurieren. Ein aus diesen Tagen erhalten gebliebenes Foto zeigt den Innenraum und das Instrument in einem relativ guten Zustand. Aus der geplanten Wiederherstellung des Kreises durch die Werkstatt des Astronomischen Instituts wurde allerdings nichts. Als zwanzig Jahre später die Türe des Observatoriums erneut geöffnet wurde, bot sich ein ganz anderer Anblick. Mittlerweile waren Wurzeln in das Innere der Kuppel eingedrungen, welche die Säulen der Montierung und das Instrument selbst umrankten. Grünspan hatte sich auf dem Messing ausgebreitet und Rost an den Eisenteilen breitgemacht. Zum Glück erkannten die Verantwortlichen rasch, dass es Zeit war, es vor dem völligen Verfall zu retten. Das Instrument wurde abgebaut und nach Esslingen an das Landesdenkmalamt zur Restaurierung abgegeben. Nicht selten wurden in der Vergangenheit historische Messinstrumente aufpoliert und somit quasi in einen Neuzustand versetzt. Dies blieb dem Tübinger Instrument zum Glück erspart und so konzentrierte man sich in Esslingen auf die Erhaltung und Konservierung des Fundzustands. Es wurde zunächst zerlegt und fachmännisch gereinigt. Dabei zeigte sich, dass der originale Instrumentenlack aus Lerchenharzterpentinlack noch großflächig erhalten war bzw. gesichert werden konnte. An den Lackfehlstellen waren durch Entzinkung, einer Korrosionsform, bei der Kupfer aus dem Messing ausgeschieden wird, bereits grünliche Ablagerungen entstanden. Diese konnten während der Konservierung des Instruments ebenfalls erfolgreich chemisch stabilisiert werden. Eine letztlich aufgebrachte Schutzschicht aus Wachs soll auch zukünftig das Messing und Eisen vor Korrosion schützen. Unterdessen wurde auch über eine umfassende Restaurierung des Observatoriums nachgedacht. Um das Kegeldach im Bereich des Spaltes gegen eindringendes Regenwasser zu schützen, behalf man sich zunächst mit einer Abdeckung des Daches durch eine Plane. Das „verpackte Observatorium“ war nun für einige Jahre fast schon ein gewohnter Anblick für die Besucher des Schlosses. Im Frühjahr 2016 wurde das Gebäude zunächst bauarchäologisch untersucht und kartiert. Gut ein Jahr später machte sich dann ein Team aus Restauratoren an die Sicherung des Gebäudes. Die Reinigung und Festigung des Mauerwerks, die Ergänzungen im Bereich der Holzkonstruktionen und die Metallarbeiten am Dach zogen sich noch bis ins Frühjahr 2018 hin. Die Projektsteuerung hatte die Vermögen & Bau des Landes Baden-Württemberg übernommen. Mit Abschluss aller Arbeiten war das Bohnenberger-Observatorium in Bezug auf seine Grundfläche eine der teuersten Denkmalsicherungen dieses Jahres.

Bedeutung
Sternwarten sind Forschungsstätten, welche in der Regel über viele Jahre genutzt werden. Nicht selten finden während dieser Nutzungsphase auch umfangreiche Umbaumaßnahmen oder instrumentelle Veränderungen statt. Astronomie ist eine außerordentlich technikaffine und moderne Wissenschaft mit wenig Drang zur Nostalgie. Vor diesem Hintergrund wird die wissenschaftshistorische Bedeutung des kleinen Observatoriums auf der Nordost-Bastion von Schloss Hohentübingen rasch deutlich. Hier hat sich, gleich einer Zeitkapsel, ein Stück astronomischer Forschung des frühen neunzehnten Jahrhunderts erhalten und dies nahezu unverändert! Im süddeutschen Raum sind nur wenige vergleichbare Objekte, wie beispielsweise die historische Sternwarte des Klosters Ochsenhausen aus dem Jahr 1788, erhalten. Dort hat sich aber gegenüber Tübingen nur ein Fragment eines großen Azimutalquadranten in der kleinen Eckkuppel des Klosterkonvents erhalten. Neben dem Tübinger Instrument wurden insgesamt noch sechs weitere große Reichenbachsche Kreise gebaut. Keines der erhaltenen Instrumente steht heute, wie der Tübinger Kreis, an seinem ursprünglichen Aufstellungsort. Vor allem dieser Umstand macht das Tübinger Ensemble heute weltweit einzigartig. Aus heutiger Sicht waren es wohl vor allem das rasch schwindende Interesse der Astronomen und die problemlose Integration des kleinen Observatoriums in die parkartige Anlage der Schlossbastion, welche letztlich zur Erhaltung dieses kulturhistorisch bedeutsamen Kleinodes geführt haben.

Weiterführende Literatur:
 
Ambronn, Leopold: Handbuch der astronomischen Instrumentenkunde – Eine Beschreibung der bei astronomischen Beobachtungen benutzten Instrumente sowie Erläuterung der ihrem Bau, ihrer Anwendung und Aufstellung zu Grunde liegenden Principien. Bd. 1. Berlin: J. Springer, 1899
 
Bruns, Paul: Die unter der Regierung seiner Majestät des Königs Karl an der Universität Tübingen errichteten und erweiterten Institute der naturwissenschaftlichen und der medizinischen Fakultät. Tübingen: Laupp, 1889
 
Dyck, Walther: Georg von Reichenbach. München. Selbstverlag des Deutschen Museums, München, 1912
 
Herbst, Klaus-Dieter: Die Entwicklung des Meridiankreises 1700-1850 Genesis eines astronomischen Hauptinstrumentes unter Berücksichtigung des Wechselverhältnisses zwischen Astronomie, Astro-Technik und Technik, GNT-Verlag, 1996
 
Klüpfel, Karl; Eifert, Max: Geschichte und Beschreibung der Stadt und Universität Tübingen. Tübingen: L.F. Fues, 1849
 
Baumann, Eberhard: Johann Gottlieb Friedrich Bohnenberger, Pionier des Industriezeitalters. Stuttgart: Kohlhammer, 2015
 
Kost, Jürgen: Wissenschaftlicher Instrumentenbau der Firma Merz in München (1838-1932). Bearbeitet und herausgegeben von Gudrun Wolfschmidt. Hamburg: tredition (Nuncius Hamburgensis – Beiträge zur Geschichte der Naturwissenschaften, Band 40), 2015
 
Münzenmayer, Hans-Peter: Denkmalpflege in Baden-Württemberg-Nachrichtenblatt der Landesdenkmalpflege, Heft 1/05, 2005
 
Pfleiderer, Christoph Friedrich: Inventarium der dem herzöglichen Collegio Illustri in Tübingen zugehörigen mathematischen und physikalischen Instrumenten und Bücher, 1782, Universitätsarchiv Tübingen, UA 117/92
 
Repsold, Johann A.: Zur Geschichte der astronomischen Messwerkzeuge von 1450 bis um 1830. Bd. 1. Leipzig: Verlag Emmanuel Reinicke, 1908
 
Repsold, Johann A.: Zur Geschichte der astronomischen Messwerkzeuge von 1830 bis um 1900. Bd. 2. Leipzig: Verlag Emmanuel Reinicke, 1914
 
Riekher, Rolf: Fernrohre und ihre Meister. Berlin : VEB Verlag Technik, 1957
 
Trierenberg, Andor: Die Hof- und Universitätsmechaniker in Württemberg im frühen 19. Jahrhundert, Dissertation an der Universität Stuttgart, 2013
 
Walter, Kurt: Vom Schloßturm zur Waldhäuser Höhe, Astronomie in Tübingen in alter und neuer Zeit, Tübinger Blätter 69. Jg., 1982
 
 
 
Beschreibung der Abbildungen:
 

  1. Frühe Fotografie der Sternwarte (Paul Sinner um 1913)
  2. Fundzustand des Instruments (2002)
  3. Detailbild des Horizontalkreises im Fundzustand (2002)
  4. Das in Esslingen eingelagerte Instrument (2012)
  5. Restaurierung der Bohnenberger-Sternwarte (2017)
  6. Erneuerte Klappen am Kuppelspalt (2018)
  7. Heutiger Zustand des Ensembles (2025)
  8. Der wieder eingebaute Reichenbachsche Kreis (2025)

Copyright Text und Bilder Jürgen Kost (2025)